Irrationale Finanzwelt

Der Tag in einer irischen Kleinstadt neigt sich dem Ende zu. Die Zeiten sind schlecht, jeder hat Schulden, alle leben vom Kredit. An diesem Tag fährt ein betuchter deutscher Tourist durch die Stadt, hält vor einem kleinen Hotel, legt einen Hundert-Euroschein auf den Tresen der Rezeption. Er sagt, er möchte sich die Zimmer anschauen um eines vielleicht - vielleicht! - für die Nacht zu mieten. Der Hotelier gibt ihm einige Schlüssel. Kaum ist der Besucher die Treppen hinauf gegangen, nimmt der Hotelier den Hundert-Euroschein, rennt zum nächsten Haus über der Straße und bezahlt seine Schulden beim Schlachter. Der Schlachter nimmt die hundert Euro und eilt damit auch über die Straße  und begleicht seine Schulden beim Fischhändler, der seine zahlreichen Hochzeitsgäste mit Räucherlachs versorgt hatte. Der Fischhändler läuft  zum Hafen, wo er den Fischer bezahlt. Der nimmt die hundert Euro und bezahlt damit an der Tankstelle seine Treibstoff-Schulden. Der Tankstellenbesitzer rennt in die Kneipe um die Ecke und bezahlt seine Getränkerechnung. Der Kneipenwirt schiebt den Schein einer an der Theke sitzenden Prostituierten zu, die dem Wirt einige Gefälligkeiten auf Kredit gegeben hatte. Die Prostituierte geht gleich zum Hotel und bezahlt die ausstehende Zimmerrechnung mit dem Hundert Euro Schein. Der Hotelier legt den Schein wieder zurück auf den Tresen, so dass der wohlhabende Reisende nichts bemerken würde. In diesem Moment kommt der Deutsche die Treppe herunter und meint, dass ihm die Zimmer nicht gefallen, er nimmt den Schein, steckt ihn ein, setzt sich in seinen Sportwagen und verlässt die Stadt. Nun ist die Stadt ohne Schulden und man schaut mit großem Optimismus in die Zukunft.
(Peter Sloterdijk)


Aus dem philosophischen Quartett vom 19. Juni 2011
Irrationale Finanzwelt: Das Gespenst des Kapitals.


Grüße von Siri

Kommentare

Mythopoet hat gesagt…
Die Ursachen und Wirkungen der Kreditkrise sind schwer zu verstehen. Hier nun endlich ein Erklärungsmodell zur Finanzkrise, das jeder versteht.

Mandy besitzt eine Bar in Berlin-Kreuzberg. Um den Umsatz zu steigern, beschließt sie, die Getränke der Stammkundschaft (hauptsächlich alkoholkranke Hartz-IV-Empfänger) auf den Deckel zu nehmen, ihnen also Kredit zu gewähren. Das spricht sich in Kreuzberg schnell herum und immer mehr Kundschaft desselben Segments drängt sich in Mandy's Bar. Da die Kunden sich um die Bezahlung keine Sorgen machen müssen, erhöht Mandy sukzessive die Preise für den Alkohol und erhöht damit auch massiv ihren Umsatz. Der junge und dynamische Kundenberater der lokalen Bank bemerkt Mandy's Erfolg und bietet ihr zur Liquiditätssicherung eine unbegrenzte Kreditlinie an. Um die Deckung macht er sich keinerlei Sorgen, er hat ja die Schulden der Trinker als Deckung. Zur Refinanzierung transformieren top ausgebildete Investmentbanker die Bierdeckel in verbriefte Schuldverschreibungen mit den Bezeichnungen SUFFBOND®, ALKBOND® . Diese Papiere laufen unter der modernen Bezeichnung SPA Super Prima Anleihen und werden bei einer usbekischen Online-Versicherung per Email abgesichert. Daraufhin werden sie von mehreren Rating- Agenturen (gegen lebenslanges Freibier in Mandy's Bar) mit ausgezeichneten Bewertungen versehen.

Niemand versteht zwar, was die Abkürzungen dieser Produkte bedeuten oder was genau diese Papiere beinhalten, aber dank steigender Kurse und hoher Renditen werden diese Konstrukte ein Renner für institutionelle Investoren. Vorstände und Investmentspezialisten der Bank erhalten Boni im dreistelligen Millionenbereich.

Eines Tages, obwohl die Kurse immer noch steigen, stellt ein Risk Manager (der inzwischen wegen seiner negativen Grundeinstellung selbstverständlich entlassen wurde) fest, dass es an der Zeit sei, die ältesten Deckel von Mandy's Kunden langsam fällig zu stellen. Überraschenderweise können weder die ersten noch die nächsten 
Hartz-IV-Empfänger ihre Schulden, von denen viele inzwischen ein Vielfaches ihres Jahreseinkommens betragen, bezahlen. Solange man auch nachforscht, es kommen so gut wie keine Tilgungen ins Haus.

Mandy macht Konkurs. SUFFBOND® und ALKBOND® verlieren 95%, KOTZBOND® hält sich besser und stabilisiert sich bei einem Kurswert von 20%.

Die Lieferanten hatten Mandy extrem lange Zahlungsfristen gewährt und zudem selbst in die Super Prima Anleihen investiert. Der Wein- und der Schnapslieferant gehen Konkurs, der Bierlieferant wird dank massiver staatlicher Zuschüsse von einer ausländischen Investorengruppe übernommen. Die Bank wird durch Steuergelder gerettet. Der Bankvorstand verzichtet großzügig für das abgelaufene Geschäftsjahr auf den Bonus.

Mit anderen Worten: wäre dieser Risk Manager gleich gefeuert worden, hätten die netten Menschen bei Mandy noch weiter trinken können, alle wären fröhlich und wir wüssten nicht, was Finanzkrise überhaupt ist. Blöd gelaufen.

(http://www.tiny-mundo.de/index.php?option=com_content&view=article&id=170:ursachen-der-finanzkrise&catid=72:hohler-geist&Itemid=319)



Beste Grüße
Mythopoet
siri hat gesagt…
Hallo Mythopoet,
danke für diese Geschichte. Die Leser des Salons wissen es zu schätzen.

Grüße von Siri

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